Wie ihr wisst, hat Frauchchen ja einen großen Zaun um unser Grundstück machen lassen, damit meine Schwester und ich nicht weglaufen können und uns nichts Schlimmes passiert. Natürlich haben wir ganz viel Platz und viele Bäume im Garten, damit uns nicht langweilig wird. Trotzdem sitze ich oft am Zaun und schaue auf die andere Straßenseite. Wehmütig stelle ich mir dann vor, was für tolle Sachen es da drüben vielleicht geben würde. “Nur ein einziges Mal die Luft auf der anderen Straßenseite schnuppern können. Das wäre genial!”
Die Freiheit ruft
Vor einiger Zeit schien tatsächlich dieser einzigartige, geniale Tag gewesen zu sein. Er begann morgens schon irgendwie komisch. Meine Lieblingsdose “Putencocktail” hatte ich intus, aber das Kribbeln in meinem Magen hörte nicht auf. Irgendwie beherrschte mich eine solch innere Unruhe, dass ich Frauchen immer nur maunzend hinterherlief und nicht wusste, wie ich dieses blöde Gefühl abstellen konnte. Als es ihr zu viel wurde, setzte sie mich kurzerhand vor die Haustür. Dort begrüßte mich von rechts das Gebell des Rottweilers unserer Nachbarn. “Schnauze, Großmaul!”, zischte ich durch meine nicht mehr vorhandenen Schneidezähne.
Eine Gelegenheit naht
Ich bezog Posten auf dem Podest neben der Haustür und beobachtete die Straße. “Oh, das Postauto. Und wer ist drin? Meine Lieblingspostbotin! Schon mal ein guter Morgen!” In Erwartung vieler Streicheleinheiten stieg ich von meinem Aussichtsplatz. Welch glückliche Fügung! Das Gartentor war nicht abgeschlossen. Herrchen hatte es mal wieder vergessen, als er aus dem Haus gegangen war. Ich wurde nicht enttäuscht. Wir begrüßten uns, als ob wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen hätten. Was für Düfte!! Ich konnte mich an ihrer Hose nicht sattriechen. Am liebsten wäre ich in sie hineingekrochen.
Ich ergreife die Chance
Aber leider musste die Postfrau ja weiter. Sie warf bei uns ein paar Umschläge ein, strich mir ein letztes Mal über den Kopf und verließ unseren Vorgarten. Aber hallo, die Gartentür! Was sahen meine verzückten Augen? Sie hatte vergessen, die Tür zu schließen! Ich schnallte es sofort: Das war die Gelegenheit, meine Chance, die Welt da draußen zu entdecken! Ich verhielt mich mucksmäuschenstill, löste mich sozusagen auf, um ja nicht aufzufallen und die Postbotin daran zu erinnern, was Frauchen ihr immer wieder eintrichtert: “Niemals die Tür offen stehen lassen!”
Das Schicksal war mein Verbündeter! Die Postbotin sprach mit der Nachbarin und ich wagte eine paar Schritte auf die Straße. Aber wohin sollte ich gehen? Mir stand alles offen. Die Wahl fiel mir schwer. Plötzlich hörte ich Schritte. Ich musste mich entscheiden: “Jetzt oder nie !”, und machte einen Satz ins Postauto. Gleich darauf schlug die Tür mit lautem Getöse zu.
Im Postauto
Vor lauter Aufregung war mir ganz schwindelig geworden. Welch ein Abenteuer! Aber was war größer, mein Glücksgefühl über die unverhofft gewonnene Freiheit oder die Angst vor dem Unbekannten. Das Innere des kleinen LKWs hatte ich mir schöner vorgestellt. Alles voller Päckchen, die ich normalerweise liebe. Aber nicht ein einziger Lichtstrahl erleuchtete sie. Ich schnupperte mich durch die großen Pakete, die auf dem Boden standen, als ich plötzlich einen fürchterlicher Ruck verspürte und einige kleine Päckchen von oben herunterfielen. Mist, eines hatte meine Vorderpfote erwischt, das tat ganz schön weh! Sofort wurde mir klar, dass dieser dunkle Käfig lebensgefährlich für mich war und ich so schnell wie möglich raus musste.
So ein Pech!
Da Ruckeln war zu Ende, die Tür schob sich zur Seite und meine Postbotin griff nach zwei Päckchen. Während sie ein Haus ansteuerte, wagte ich den rettenden Sprung aus dem Auto. “Ahhh”, stöhnte ich in mich hinein. Es kam mir vor, als ob ein Messer meine Pfote durchstechen würde. “Das hat mir gerade noch gefehlt! Jetzt, wo sich mir alle Möglichkeiten bieten, habe ich höllische Schmerzen in der Pfote!”
Und weiter geht die Reise…
Ich ließ meinen Blick die Straße entlanggleiten. Na ja, weit waren wir nicht gefahren. Die Häuser kannte ich noch alle von meinem Fensterausguck im Schlafzimmer. Was tun? Ich beschloss, den Garten der Nachbarn auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu besichtigen. Dort waren kleine Hasen, die ich schon oft im Visier hatte. Ich tastete mich vorsichtig zum Hasenstall vor und versuchte dabei, mein Humpeln zu verbergen. Musste ja nicht gleich jeder wissen, dass ich verletzt war. Komischerweise freuten sich die vier Kleinen nicht, als sie mich sahen. Sie rannten wie von der Tarantel gestochen los und wollten sich verstecken. Dabei rissen sie ein Treppchen in ihrem Stall ein, was unüberhörbar war. Das hatte natürlich ihr Frauchen alarmiert, die wie eine Furie angeschnauft kam. Mann, sie hatte wohl gerade die Stauden gegossen und hielt einen Schlauch in der Hand. Mit dem zielte sie auf mich. Eine Gemeinheit!!! Ich rannte so schnell ich konnte davon, kam aber wegen meiner Pfote nicht auf die volle Geschwindigkeit. Und so traf mich das Wasser am ganzen Körper, sodass mein Fell an mir klebte und ich zu halber Größe zusammengeschrumpft war.
Im Visier des Rottweilers
Wie ein verwundeter Tiger im Dschungel schlich ich von dannen. Die Freiheit hatte anscheinend doch ganz schöne Tücken. Das Beste war, ich ging wieder nach Hause. Dort war es am sichersten. Ich musste nur noch die Straße überqueren. Leider hatte ich total übersehen, dass das Großmaul von Rottweiler hinter seiner Gartentür lauerte. Er tobte, als ginge es um sein Leben, und sah in mir eine willkommene Jagdmahlzeit. Anscheinend hatte er den ganzen Tag noch nichts gefressen. Ich wusste, wenn er über den Zaun sprang, was immer wieder vorkam, war ich tot. Stockstarr verharrte ich unter einem Busch.
Ich will heim……
Das fürchterliche Gebell trieb mehrere Nachbarn auf die Straße, auch mein Frauchen und die Besitzer des Rottweilers. Sie rätselten, was den Hund so aufregte, und ahnten nicht, dass ich, Rousseau, der uneingeschränkte Herrscher über Haus und Garten, jetzt als hinkende, tropfnasse Trauergestalt die Ursache war.
Der Rottweiler musste wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses ins Haus und ich schlich über die Straße. Dabei flehte ich alle meine Vorfahren im Regenbogenland an, dass keiner mich so sehen würde, vor allem nicht der freche schwarze Kater, den ich immer vom Fenster aus anspuckte. Das wäre die größte Blamage meines Lebens gewesen. Dem scharfen Auge von Frauchen entgeht allerdings nichs. Sie entdeckte mich vom Küchenfenster aus. Voller Entsetzen stürzte sie aus dem Haus und holte mich herein.
Ende gut, alles gut!
Nachdem sie mich trockengerubbelt hatte, fuhren wir zum Tierarzt, der eine Verstauchung feststellte. Zum Glück nichts Schlimmeres. Frauchen weiß bis heute noch nicht, was ich erlebt habe. Aber Herrchen hat abends eine Standpauke bekommen, die sich gewaschen hat. Das könnt ihr glauben. Mal ehrlich, vorerst habe ich von der Freiheit die Nase voll.
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